Die peinlichsten Fotografien von Bratislava

Verliebt in Ansichtskarten
5. April 2023

Plattenbausiedlung, Militärübung, Trabant. Das sind Objekte, die heutzutage kaum jemand als Motiv für eine Ansichtskarte wählen würde. Und falls doch, diese Ansichtskarte würde, aller Wahrscheinlichkeit nach, niemand kaufen – es sei denn, aus ironischer Nostalgie. Vor nicht allzu langer Zeit waren jedoch die fortschrittlichen Städte gerade auf solche kuriosen Vorzeigeobjekte sehr stolz.

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Die Werteordnung der marktorientierten Nachkriegswelt beeinflusste auch den Bereich der Ästhetik und weltweit haben auf Ansichtskarten bemerkenswerte Produkte der Massenproduktion ihren Platz gefunden. Es scheint, dass sich in den sozialistischen Ländern im Rahmen der Ästhetik alle neuen Werte, die berufen waren, alles das Gewesene von der Erdoberfläche verschwinden zu lassen, eine noch mehr dominante Stellung errungen haben – auch was die Ansichtskarten betrifft. In der Folge versuchen wir mit schonungsloser Subjektivität zu enthüllen, was wohl die stämmigen Genossen dazu bewegte, mit einem rauchenden Schornstein, einer Fabrik, dem Kramare-Krankenhausgebäude, oder mit ZOO-Besuchern, die in Ballonmänteln gekleideten waren, für Bratislava Werbung zu machen.

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Fortschrittliche Romantik

Mein Schätzchen! Ich schicke Dir die herzlichsten Grüße aus der von Rauchgasen verfärbten, halb demolierten, jedoch in traumhaften Plattensiedlungen wiederauflebenden Stadt Bratislava, in welche ich gekommen bin, um mich Dank der gesamtstaatlichen Konferenz für Vertrauensmänner der Revolutionären Gewerkschaftsbewegung, weiterzubilden. Obwohl die Sonnenstrahlen durch den dichten und giftigen, von den Betrieben Slovnaft und Závod mieru (Werk des Friedens) erzeugten Rauchschleier nur sehr mühsam durchdringen, ist der Anblick der frisch asphaltierten Fahrstreifen der Brücke des Slowakischen Nationalaufstandes, von denen, wie winzig kleine Spermien, weiße, grüne, blaue und rote Automobile in die von Fruchtbarkeit expandierende Gebärmutter von Petržalka (Engerau) geschossen werden, sehr ergreifend. Was würde ich dafür geben, wenn wir das alles zusammen erleben könnten … in fester Umarmung unter der auseinander fallenden Burg von Bratislava (die hoffentlich bald abgerissen wird). Ich schicke Dir einen heißen Kuss. Dein Dich liebender Jaroš

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Etwas Ähnliches hätte ein Jüngling aus Ostrava, der Angang der 80. Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts dienstlich nach Bratislava gekommen ist, und eine dieser Ansichtskarten gekauft hatte, seiner Verlobten schreiben können. Es ist wirklich schwer sich nur vorzustellen, was die Leute im Zeitalter des Stahlbetons von den rauchenden Schornsteinen und Plattenbaukolossen, die mit erschreckender Schnelligkeit in die Höhe gewachsen sind, erwarten konnten. Die Antwort ist jedoch einfach: Arbeit, Wohnen, bessere Lebensbedingungen. Da uns, den heutigen zwanzigjährigen, aus dieser Zeit nur einige Erinnerungen aus unserer Kindheit geblieben sind, neigen wir dazu, diese geistigen und materiellen Werte, welche die Ansichtskarten vermitteln wollten, mit gewisser Verachtung zu betrachten. Ob diese Einstellung berechtigt oder nicht berechtigt ist … soll jeder für sich entscheiden (um nachher einsehen, dass sie doch berechtigt ist).

Sicher ist, dass wir uns nur mit großer Überwindung vorstellen können (und glauben können), dass junge Leute, so wie die Postkarte verkündet, einfach nur so vor Freude unter dem riesigen Schornstein der Fabrik Závod mieru (Werk des Friedens) anfangen würden zu tanzen. Obwohl, nachdem wir den Text auf der Rückseite der Ansichtskarte gelesen haben, begreifen wir, dass die Freude der tanzenden Pioniere ganz und gar begründet ist. „In der Slowakei haben nur im Laufe des Fünfjahresplans 125 neue Fabriken ihren Betrieb aufgenommen und weitere 109 wurden modernisiert. Dieses wunderschöne, jedoch früher arme Land verfügt bereits über moderne Industriebetriebe, Dank welchen es den Wohlstand für seine Einwohner sicherstellen kann“, wird in dem in tschechischer Sprache verfassten Text verkündet.

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Einmalige Ballonmäntel

Ohne Ballonmäntel wäre das Leben viel langweiliger. Auch die Autoren der Ansichtskarten haben sich bemüht auf diese unzweifelhafte Wahrheit hinzuweisen, indem sie auf ihren Ansichtskarten die außergewöhnlichen exotischen ZOO-Bewohner von Bratislava präsentierten, zugleich aber auch für die Besucher Platz reserviert haben. Und die Besitzer der Ballonmäntel, die auf diese Weise verewigt worden sind, konnte sich wie richtige Glückpilze fühlen. Auf den Ansichtskarten sehen wir zwei junge Leute in einem beigen und einem blauen Ballonmantel, wie sie sich dem Auslauf mit Straußen und Emus nähern. Ihre modischen Ballonmäntel passen perfekt zur Tierwelt – die Strauße können sie sicher schon kaum erwarten.

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Auf der anderen Ansichtskarte wird die Gruppe von neugierigen Besuchern von einem Tukan, Luchs, Schimpansenbaby und einer Turteltaube mit fieberhaftem Blick verfolgt. Auf der Aufnahme in der Mitte ist klar zu sehen, dass sich unter den Besuchern auch die Besitzer eines rostbraunen, hellblauen und leuchtend gelben Ballonmantels befinden.

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Die gleiche Gruppe ist auch auf der Ansichtskarte, die Raubkatzen präsentiert, zu sehen. Und obwohl zwischen den Tierchen für die Mitglieder der Gruppe die kleinste Fläche übrig geblieben ist, ist nicht zu übersehen, dass die Frauen im gelben und hellblauen Ballonmantel, wie auf der vorherigen Ansichtskarte, von dem in himmelblauer Windjacke gekleideten Gesellen angeführt werden. Wahrscheinlich kennt er schon den Weg (oder er kann kaum erwarten, das nächste Tier zu erblicken).

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Wer hätte von den berühmten Papageien von Bratislava nicht gehört?! Wie bekannt, haben diese Vögel während der Jahrzehnte des Sozialismus hunderttausende von Touristen in die Stadt gelockt. Auch das war der Grund, warum sie ihren Platz auf Ansichtskarten finden konnten (damit die Empfänger sehen, was sie versäumt haben, weil sie zu Hause geblieben sind). Und obwohl wir auf den nächsten Ansichtskarten die drei wichtigsten touristischen Attraktionen von Bratislava finden können (Burg, Domkirche, Papageie), könnten wir das Gefühl haben, dass doch noch etwas fehlt. Was? Doch die ZOO-Besucher in Ballonmänteln.

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Braun werden auf Beton

Bratislava ist eine echte Badestadt. Nur Amateure wissen nicht, dass zu sozialistischen Zeiten bei uns berühmte Freibäder eröffnet worden sind, was für die Erholungszentren von Bulgarien, Jugoslawien und Krym das Aus bedeutete – die Genossen würden doch nur noch im Strandbad Zlaté piesky (wie Goldener Sand an der Schwarzmeerküste benannt) und im Schwimmbad des Stadtteils Ružinov namens Delfín Urlaub machen.

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Nicht ohne Grund waren diese großartigen Schwimmbäder auch auf den derzeitigen Ansichtskarten abgebildet. Ihre Besucher konnten da die damals revolutionäre Form der sommerlichen Erholung ausprobieren – nämlich auf dem Beton liegend ein Sonnenbad nehmen. Dank der dynamischen Entwicklung der sozialistischen Wirtschaft war es nämlich möglich, die Grasflächen der Freibäder mit Betonplatten zu bedecken. Dadurch fiel nicht nur die zeit- und energieaufwändige Pflege der Rasenflächen weg, sondern die Urlauber konnten ihre karierten Decken direkt auf dem heißen Beton breitmachen und sich auf diese Weise von oben, als auch von unten grillen lassen. Ganz zu schweigen davon, dass sie kein Ungeziefer mehr belästigen konnte.

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Aus heutiger Sicht kann uns lächerlich vorkommen, dass wir den peinlichen Ansichtskarten auch Siebdruckgrafiken zugeordnet haben, die Dominanten von Bratislava in einer solchen Form darstellen, in welcher wir sie im realen Leben nie erblicken konnten. Am romantischsten wirkt der Fernsehturm, der am Gipfel des Bergs Kamzík vom tobenden Wind umarmt wird. Sogar einem Fotografen gelingt es nur äußerst selten, einen solchen einzigartigen Augenblick zu verewigen.

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István Veres

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